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Wozu Sex? 

Sex als Konflikt: Krieg im Mutterleib

Diverserse Rezensenten machten eine verwirrende und komplizierte Struktur des Buches aus. Auszüge aus dem Kapitel über Imprint mit dem abschreckenden Titel - ich weiß, wovon ich rede - Krieg im Mutterleib zeigen, warum dies tatsächlich so ist.

Sex, zumindest aus evolutionsbiologischer Sicht, ist kompliziert und verwirrend. Diverse Rezensenten attestierten dies auch dem Buch. Biologiestudentinnen, ehemalige Biologie-Studenten sowie hessische Biologie-Lehrerinnen folgten dem Verdikt. Daher hier eine kleine Selbstdarstellung, wie kompliziert das ganze wirklich ist. 

Dabei geht es um ein Phänomen, das mit den Mendelschen Gesetzen nicht in Einklang zu bringen ist. Dies wäre nicht weiter tragisch, denn bekanntlich gilt schon das Gesetz der unabhängigen Verteilung für Gene auf demselben Chromosom nicht. Das schmälert nicht das Vertrauen in die Mendelschen Gesetze. Das Phänomen des Imprints freilich widerspricht allen Vorstellungen, die sich in den letzten 100 Jahren etabliert haben. Daher haben sich, Siddhartha Mukherjee läßt grüßen, bei der Analyse von Imprintgenen in Verbindung mit der Vererbung erworbener Eigenschaften diverse konfuse Darstellung etabliert. 

Kleiner Ratschlag: Fragen Sie mal ihren aktuellen Arzt, was die Plazenta für ein Organ ist. Ein Organ der Mutter, des noch Ungeborenen, oder ein symbiotisch funktionierendes von beiden? Eine exzellente Darstellung dazu findet sich in Life's Vital Link - The astonishing role of the placenta (2013) von Y.W. Loke

Dafür hier einige gut verdaubare Auszüge aus Kapitel 4:

Sex als Konflikt: Krieg im Mutterleib - Epigenetik und das genetische Imprint

Wir alle sind im Sex gefangen. Niemals wird eine Frau daherkommen und – wie es bei so vielen anderen Lebewesen üblich ist – aus einem unbefruchteten Ei ein gesundes Baby gebären.


Wir sind im Sex gefangen, aber die dafür verantwortlichen männlichen und weiblichen Gene verfolgen eigene Interessen. Sex ist ein genetischer Geschlechterkampf mit weitreichenden praktischen Konsequenzen. So sollten sich künftig romantisch veranlagte Menschen vor der Illusion hüten, nach der alle Gene harmonisch zusammenarbeiten, um ein gesundes Kind zu produzieren. »Krieg im Mutterleib« oder »Konflikte um die Plazenta« lauten seit einiger Zeit die Schlagwörter, mit denen Genetiker die Vorgänge während einer Schwangerschaft umschreiben. Vor ungefähr zehn Jahren wurde man erstmals auf die Existenz väterlicher Gene im Fetus aufmerksam, die sich völlig egoistisch verhalten und so der künftigen Mutter unter Umständen schwere gesundheitliche Schäden zufügen können. 

Reik ist vom Imprinting-Phänomen fasziniert, andere Genetiker sprechen von einer der aufsehenerregenden Entdeckungen der letzten 20 Jahre. Denn Imprinting-Gene widersprechen all dem, was Studenten der Biologie seit 100 Jahren über Vererbung gelernt haben. Nach einer eisernen Regel der Genetik prägt in Arten mit zwei Chromosomensätzen üblicherweise ein Gen – oder genauer: die mögliche Form eines Genes, auch Allel genannt – ein Merkmal unabhängig davon, ob es vom Vater oder von der Mutter vererbt wird. Der Augustinerpater Gregor Johann Mendel (1822–1884) erkannte dies als erster in seinen bahnbrechenden Experimenten, die er in einem Kloster in Brünn durchführte: Kreuzte er kurzstielige mit langstieligen Erbsen, so erhielt er stets dieselben Ergebnisse: Pflanzen mit langen Stielen, gleichgültig ob die Genkopie für lange Stiele nun von der Eizelle oder vom Pollen kam. Das Gen oder der Erbfaktor – Mendel sprach von Merkmal – für lange Stiele ist dominant über das für kurze. Also sind männliche 

»Väterliche Gene sind habgierig und saugen wertvolle Nahrung aus der werdenden Mutter heraus«, erklärt Wolf Reik den Sachverhalt. Seit 19 Jahren forscht Reik am Babraham-Institut im englischen Cambridge in der Abteilung für Entwicklungsgenetik. In Wissenschaftsmagazinen publiziert er Artikel über den elterlichen Einfluß auf das Genom, über dramatische Konflikte zwischen väterlichen und mütterlichen Genen im Mutterleib, über den Kampf der Geschlechter, der schon im befruchteten Ei beginnt, über die Programmierung und Reprogrammierung des Genoms im frühen Embryo und über deren Bedeutung für das Klonen. 

Reprogrammierung bedeutet, daß ein Genom aus einer schon spezialisierten Zelle in den Zustand einer totipotenten embryonalen Zelle zurückversetzt wird. Umgeben von Labormäusen, DNA-Sequenziermaschinen und Mitarbeitern aus aller Welt gilt Reiks Hauptinteresse dem Phänomen der genomischen Prägung (genomic imprinting), das bei seiner Entdeckung nur Erstaunen hervorrief: Das genetische Material im Spermium und in der Eizelle weist jeweils eigene Muster auf, die dazu führen, daß einige Gene der mütterlichen und der väterlichen Seite im Embryo – die, und das ist hier entscheidend, nicht auf den Geschlechtschromosomen liegen – unterschiedlich zur Geltung kommen. Dem jeweiligen Gen hängt quasi ein Etikett an, auf dem entweder Hallo, ich komme vom Vater, mach mal das oder Hallo, ich komme von der Mutter, mach mal dies steht – wobei sowohl das als auch dies oft für entgegengesetzte Informationen stehen. Aber beide Genkopien müssen vorhanden sein, sonst wird es kritisch. 

Reik ist vom Imprinting-Phänomen fasziniert, andere Genetiker sprechen von einer der aufsehenerregenden Entdeckungen der letzten 20 Jahre. Denn Imprinting-Gene widersprechen all dem, was Studenten der Biologie seit 100 Jahren über Vererbung gelernt haben. Nach einer eisernen Regel der Genetik prägt in Arten mit zwei Chromosomensätzen üblicherweise ein Gen – oder genauer: die mögliche Form eines Genes, auch Allel genannt – ein Merkmal unabhängig davon, ob es vom Vater oder von der Mutter vererbt wird. Der Augustinerpater Gregor Johann Mendel (1822–1884) erkannte dies als erster in seinen bahnbrechenden Experimenten, die er in einem Kloster in Brünn durchführte: Kreuzte er kurzstielige mit langstieligen Erbsen, so erhielt er stets dieselben Ergebnisse: Pflanzen mit langen Stielen, gleichgültig ob die Genkopie für lange Stiele nun von der Eizelle oder vom Pollen kam. Das Gen oder der Erbfaktor – Mendel sprach von Merkmal – für lange Stiele ist dominant über das für kurze. Also sind männliche und weibliche Keimzellen gleichberechtigt, ein seinerzeit revolutionärer Befund, hingen doch viele der vor allem männlichen Forscher und Ärzte im 19. Jahrhundert der Idee an, daß der Samen die Erbanlagen präge. Mendels Befunde gelten im großen und ganzen noch heute, aber bei einigen wenigen Genen ist es tatsächlich von Bedeutung, ob sie von der Mutter oder vom Vater ererbt werden: Bei der genomischen Prägung hängen die zum Vorschein kommenden Merkmale davon ab, ob sie über die Eizelle oder das Spermium in die Zygote gelangen; bestimmte Chromosomenabschnitte werden in der männlichen beziehungsweise weiblichen Keimbahn – also der Zelllinie, aus der die sich von den Körperzellen, dem Soma, getrennt entwickelnden Keimzellen hervorgehen – spezifisch markiert, so daß in den Körperzellen des neugeborenen Individuums entweder nur die väterliche oder die mütterliche Kopie eines Gens aktiv ist. 

Als klassisches Beispiel des genomic imprint oder auch imprinting gilt ein Gen namens Igf-2, das bei der Maus auf dem Chromosom 7 liegt und den insulinähnlichen Wachstumsfaktor 2 (insulin-like growth factor) kodiert: Wachstumsfaktoren sind Proteine, die Zellen beim Wachstum und der Bildung von Geweben regulieren. Die insulinartigen Wachstumsfaktoren gehören zu einer Gruppe von chemischen Verbindungen, die von der Leber gebildet werden und für die Ausbildung des Skeletts wichtig sind; generell ist das Zusammenspiel zahlreicher Wachstumsfaktoren für das komplizierte Verhalten der Zellen in sich entwickelnden Geweben und Organen verantwortlich. Im Fetus treibt das Igf-2-Gen die Zellteilung an, während es in der Plazenta die Nahrungsübertragung von der Mutter zum Embryo steuert. 

Bemerkenswerterweise ist das Gen im Embryo der Maus nur auf der väterlichen Kopie aktiv, in der mütterlichen ist es normalerweise abgeschaltet, so als wollten ausgerechnet die väterlichen Gene besonders viele Nahrungsressourcen aus der Mutter herausholen. Dies klingt merkwürdig, und das gleiche läßt sich über die Ergebnisse jener bahnbrechenden Experimente zweier Forschungsteams in Philadelphia und Cambridge sagen, die 1984 erstmals dazu führten, die Existenz eines Imprinting-Musters in Betracht zu ziehen. 

»Aber eigentlich begann alles mit der Frage nach der Parthenogenese, der eingeschlechtlichen Fortpflanzung«, erinnert sich Reik. »Warum entwickelt sich bei Säugern aus dem unbefruchteten Ei kein Lebewesen? Diese Frage stand schon Jahre zuvor unbeantwortet im Raum. Nun gab es einige prinzipielle Möglichkeiten, warum Jungfernzeugung bei uns nicht vorkommt, und eine davon war, daß die Gene geschlechtsspezifisch geprägt sind, daß sie also imprinted sind. Dies würde bedeuten, daß parthenogenetischen Embryonen halt die Prägung vom Vater fehlt. Aber ein derartiger Mechanismus wurde damals nur als eine theoretische Möglichkeit in Betracht gezogen. Und ein zweiter Aspekt war – damals sehr wichtig, jetzt aber vielleicht schon in Vergessenheit geraten –, daß es da einen Mann namens Illmensee gab 

In den siebziger und frühen achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts galt Karl Illmensee als Wunderkind der Embryologie: 1977 produzierte er Mäuse aus nur väterlichen oder nur mütterlichen Genen, wenig später klonte er sogar Mäuse. Zumindest waren das die Befunde, die Illmensee publizierte. 

»Er war als Embryologe derart hoch angesehen«, sagt Reik, »daß viele glaubten, nur ein solch technisch brillanter Mann, der seiner Zeit weit voraus war, könnte derartig spektakuläre Experimente überhaupt durchführen.« 

Um Mäusejunge aus nur väterlichen oder nur mütterlichen Genen herzustellen, muß in der Zygote, der befruchteten Eizelle, das genetische Material von einem der beiden Vorkerne ausgetauscht werden. Diese Vorkerne entstehen einige Stunden nach der Befruchtung, der eine aus der Eizelle, der andere aus dem in das Ei eingedrungenen Spermium. Beide Vorkerne enthalten also jeweils die Chromosomen vom männlichen beziehungsweise vom weiblichen Elternteil, sie sind also immer noch haploid, haben also nur einen Satz von jedem Chromosom. Gerne verkünden Bioethik-Beauftragte diverser Organisationen, die endgültige Verschmelzung vom Ei und Spermium, wodurch neues Leben geschaffen oder empfangen werde, finde in der befruchteten Eizelle statt. Nun, diese Behauptung trifft auf den Seeigel zu, nicht aber bei Säugetieren: Die Vorkerne kommen sich bei Mäusen und Menschen in der Zygote zwar immer näher, bleiben aber zunächst getrennt. Erst wenn diese beiden Vorkerne in das Zentrum der Zelle wandern, beginnen sich ihre Kernhüllen, die Membranen, zu verzahnen. Dann verdoppeln die beiden Vorkerne ihre Chromosomen, und die Zelle trifft Vorbereitungen zur Teilung. Aber immer noch bleiben die mütterlichen und väterlichen Chromosomensätze schön getrennt: Die endgültige Verschmelzung der elterlichen Gene findet erst im Zweizellstadium statt. Daher sollte es irgendwie möglich sein, so die Vorstellung von Zellbiologen um 1980 herum, die DNA aus einem Vorkern herauszusaugen und sie durch Injektion mit einer anderen DNA zu ersetzen. 

Karl Illmensee hatte nun behauptet, einen Vorkern mit mütterlichen Chromosomen in eine unbefruchtete Eizelle implantiert zu haben respektive aus der unbefruchteten Eizelle den weiblichen Vorkern entfernt und ihn durch zwei Vorkerne mit Spermien-Chromosomen ersetzt zu haben. Plötzlich gab es angeblich Mäuseembryonen, die, genetisch gesehen, nicht die üblichen zwei Elternteile hatten, sondern nur väterliche oder nur mütterliche. Außerdem hatte Illmensee behauptet, daß sich seine einelterlichen Embryos zu prächtigen Mäusen entwickelt hätten. Allerdings gelang es keinem anderen Wissenschaftler, diese Experimente zu wiederholen. 

Die Entwicklungsbiologie nahm eine entscheidende Wendung, als der Zellbiologe Davor Saltor 1983 in Philadelphia eine Methode entwickelte, mit der sich Vorkerne auf wesentlich einfachere Art austauschen und fusionieren ließen, als es bis dahin möglich war. Dank dieser Technik konnten relativ schnell einelterliche Embryonen hergestellt werden; 1984 publizierten die Philadelphia-Gruppe und ein Team in Cambridge um den Entwicklungsgenetiker Azim Surani ihre Ergebnisse. Beide kamen zu dem Schluß, es sei völlig unmöglich, Vorkerne so auszutauschen, daß sich die Embryonen – die zwar eine normale Anzahl Chromosomen haben, aber nur jeweils einen doppelten Satz allein von der Mutter oder nur vom Vater – normal entwickeln können. Diese einelterlichen Embryonen sahen merkwürdig aus und starben schnell in der Gebärmutter ab. Der Embryo mit den Nur-Mutter-Genen enthielt relativ gut ausgeprägtes embryonales Gewebe, während das Gewebe drumherum, zu dem auch die Plazenta zählt, kaum vorhanden war. Umgekehrt die Nur-Spermien-Embryonen: Das embryonale Zellgewebe war unterentwickelt, während die Fachleute sich über eine relativ gut ausgebildete Plazenta wunderten. 

Wie auch immer, die Schlußfolgerungen waren eindeutig: Embryonen mit nur dem väterlichen oder nur dem mütterlichen Genom sind nicht überlebensfähig. Für eine normale Entwicklung werden beide Genome benötigt. 

»Und der Grund dafür sei, so wurde geschlossen, eine Markierung der Chromosomen durch Imprints, das heißt, daß die Chromosomen elternspezifisch markiert sind. So lautete zumindest der Vorschlag am Ende dieser beiden Artikel, obwohl damals noch kein konkreter Mechanismus für ein derartiges Imprinting bekannt war.« 

»Und was war dann mit den Illmensee-Mäusen?«

»Saltors und Suranis Ergebnisse widersprachen unmittelbar dem Resultat von Illmensee, der ja angeblich einelterliche Mäuse produziert hatte«, antwortet Reik. Schon 1983 wurde Illmensees Labor an der Universität Genf auf diese Ungereimtheiten hin untersucht. Zwar konnte ihm kein Forschungspfusch oder gar Betrug nachgewiesen werden, aber die Kommission erhob schwere Vorwürfe gegen seine Protokollführung sowie die Art und Weise, wie er sein Labor organisiert hatte. 1985 verschwand Illmensee aus der Schweiz und somit aus der internationalen Forscherszene, zur selben Zeit machte sich Reik nach Abschluß seiner Doktorarbeit in Hamburg auf die Suche nach einem Job in England. Er besuchte verschiedene Labors in England, auch das von Azim Surani in Cambridge. 

»Ich hatte schon von ihm gehört, nicht sehr viel, sein Artikel war gerade erst erschienen, die ganze Angelegenheit war also noch sehr heiß«, sagt Reik. »Ich war von diesen Experimenten mit einelterlichen Mäusen derart fasziniert, daß ich sofort über die Möglichkeiten nachdachte, den molekularen Mechanismus für das Imprinting herauszufinden. Ich wollte vor allem spezifische Gene finden, die dem Imprinting unterliegen. Daher habe ich mich schnell in Cambridge beworben und bin auch angenommen worden. Tatsächlich haben wir damals die ersten DNA-Methylierungen gefunden, die Ergebnisse wurden 1987 in Nature publiziert. Und es stellte sich dann heraus, daß Imprints elternspezifisch sind und auf DNAMethylierung beruhen.« 

Was bedeutet DNA-Methylierung? Wie kommt es dazu, daß in einem Embryo beispielsweise nur die väterliche Kopie eines Genpaars aktiv ist, während die Kopie von der Mutter plötzlich verstummt? Der Mechanismus, der diese Prägung verursacht, ist recht unspektakulär und aus anderen DNA-Inaktivierungsprozessen in einer Zelle wohlbekannt: Das jeweilige Gen wird durch einen Vorgang stumm gemacht, der als Methylierung bezeichnet wird. Dabei heftet sich in der DNA-Doppelhelix eine sogenannte Methylgruppe aus Kohlenstoff und Wasserstoff (-CH3) an die Base Cytosin, wodurch der Buchstaben C des genetischen Alphabets modifiziert wird. Genauer: Bindet in der Aktivierungsregion eines Gens – also dort, wo die Transkription, die Informationsübertragung von der DNA auf die RNA initiiert wird – eine Methylgruppe an das Cytosin an, gibt das Gen seine in ihm enthaltenen Anweisungen an die Zelle nicht mehr weiter; die Methylierung macht die Gene kurzerhand stumm; es gibt allerdings auch Ausnahmen, bei denen es genau umgekehrt ist. 

»Konzentrieren wir uns erst einmal auf das Allgemeine. Das Imprinting findet also während der Bildung der Keimzellen statt?« 

»Ja«, antwortet Reik, »aber wie es exakt funktioniert, das wissen wir noch nicht. Es wird ein Methylierungsimprint in der einen Keimbahn gesetzt – beispielsweise in der unreifen Eizelle, der sogenannten Oozyte, aber nicht in der anderen Keimbahn, also nicht während der Spermatogenese, der Bildung der Spermien. Kommt es dann zur Befruchtung, ist auf dem einen Chromosom das Gen imprinted oder methyliert und auf dem anderen Chromosom ist es nicht methyliert. Das Wichtige an diesem Methylierungsmuster ist nun, daß es somatisch, also in den Körperzellen, stabil ist: Wenn es zur Verdopplung der Chromosomen während der Zellteilung kommt, werden die Methylierungsmuster mit repliziert, folglich bleiben sie erhalten. Unter Replikation verstehen wir die exakte Vermehrung eines Organismus, einer Zelle oder der DNA: Wenn sich also die Zellen in dem Embryo vermehren, bleibt der Unterschied zwischen dem mütterlichen und dem väterlichen Chromosom bestehen. Dies führt nun dazu, daß die eine Kopie stillgelegt ist, also nicht transkribiert wird, während die nicht methylierte Kopie transkribiert wird. Unklar allerdings sind die konkreten Faktoren, die diese Mechanismen auslösen. Das einzige, was wir wissen, ist, daß am Setzen des Imprints in der Keimbahn Enzyme beteiligt sind, die die DNA methylieren können.« 

»Und ist diese Methylierung auch der Grund dafür, daß in einer Leberzelle nur die für dieses Organ codierenden Gene aktiv sind und die anderen Gene stumm sind?« 

»Darüber streiten sich die Gelehrten«, antwortet Reik. 

»Aber das wäre derselbe Mechanismus, der dafür in Betracht kommen könnte?« 

»Das wäre ein potentiell sehr guter Mechanismus, um Gene, die nicht benötigt werden, stillzulegen. Aber man weiß es nicht. Das Experiment, mit dem man das wirklich nachweisen könnte, ist nicht einfach durchzuführen.« 

Reik berichtet von einem Experiment, bei dem die Methylierung im Genom einer Maus praktisch zu 90 Prozent getilgt wird. Dies sei technisch sehr schwierig, aber man könne mit Embryonen arbeiten, in denen die Enzyme, die die Methylierung verursachen, mutiert sind. Diese Embryonen sterben früh ab, ein Beweis dafür, wie wichtig die DNA-Methylierung für ein gesundes Individuum ist. Letztlich aber hätten sich in den mutierten Mausembryonen alle Genaktivitäten derart verändert, daß es unmöglich wird, dieses Experiment exakt zu interpretieren. 

Dann beginnt Reik, von einem besonders faszinierenden Aspekt der genomischen Prägung zu erzählen, davon, wie die Imprints in jeder neuen Generation immer wieder richtig gesetzt werden müssen, gleichgültig, ob sie nun von der mütterlichen oder von der väterlichen Seite in den Embryo gelangen, gleichgültig, ob bei Maus, Gorilla oder Mensch. Da existiert beispielsweise ein geprägtes Gen, das vom Vater kommt; die Markierung wird also über das Spermium an den Nachwuchs weitergegeben. Das Kind, nehmen wir an, es ist ein Mädchen, hat so auf dem Chromosom, das von der väterlichen Seite kommt, die stummgemachte Kopie eines Gens, während die Genkopie auf dem mütterlichen Chromosom nicht ausgeschaltet wurde, also aktiv ist. Obwohl die Eibildung in der Tochter mit einer undifferenzierten Keimzelle beginnt, die sowohl väterliche als auch mütterliche Chromosomen enthält, produziert sie am Ende der Meiose nur Keimzellen mit aktiven Imprinting-Genkopien, denn die Tochter gibt ja später als Mutter an den eigenen Nachwuchs – gleichgültig ob Junge oder wieder Mädchen – nur weibliche Imprinting-Gene weiter. Daher muß zuerst einmal die Stummachung – die Methylierung – auf dem ursprünglichen väterlichen Chromosom entfernt werden. Anders ausgedrückt: Gibt eine Frau väterliche Imprinting-Gene an ihre Kinder weiter, müssen diese ursprünglichen väterlichen Gene einen mütterlichen ImprintStatus verpaßt bekommen. 

»Wenn das Imprint durch die nächste Keimbahn geht, muß sein Status reversibel sein«, sagt Reik dazu. »Tätsächlich werden die Imprints relativ früh in der Keimbahn getilgt und dann wieder neu gesetzt. Und es ist absolut faszinierend, dies zu beobachten: Plötzlich ist die komplette Methylierung weg. Wie das konkret funktioniert, wissen wir nicht, aber mechanistisch läßt es sich inzwischen exakt rekonstruieren: All dies vollzieht sich in der Embryogenese der Maus zwischen dem Tag elfeinhalb und dem Tag zwölfeinhalb. Am Tag elfeinhalb nach der Befruchtung ist in den Keimzellen alles noch normal, die Imprinting-Muster sind noch vorhanden. Und einen Tag später sind sie alle verschwunden. Nach der Tilgung gibt es also offensichtlich eine Situation, in der die Chromosomen hinsichtlich ihres Imprinting-Zustands neutral sind.« 

»Und wie werden die Imprints dann wieder gesetzt?« 

»Dies ist je nach Oogenese, wie die Entwicklung der weiblichen Eizellen genannt wird, oder Spermatogenese, dem Vorgang der Spermienbildung, unterschiedlich. In der Spermatogenese werden die Imprints sechzehn Tage nach der Befruchtung wieder gesetzt, während es in der Oogenese erst nach der Geburt wieder losgeht. Wie gesagt, wir reden hier über Mäuse, bei denen die Geburt um den zwanzigsten oder einundzwanzigsten Tag nach der Befruchtung erfolgt. Danach werden bei den Weibchen die Markierungen für die zukünftige Generation wieder gesetzt.« 

Entdeckt wurden die ersten geprägten Gene 1991 in Mäusen, und erstaunlicherweise bewogen diese Experimente einige Biologen dazu, die Prozesse während einer Schwangerschaft im allgemeinen und die Rolle der Plazenta im besonderen neu zu überdenken. 

Alle schwangeren Frauen haben einen Mutterkuchen, der immer dicker und dicker wird, irgendwann zwischen 500 und 900 Gramm wiegt und dann in der Regel nach neun Monaten unter Wehen aus dem Körper ausgestoßen wird. Vor 3000 Jahren erstaunte dies die Menschen ebenso wie die Ankunft eines Kometen am Himmel: Voller Ehrfurcht starrten die Ägypter auf diese drei Zentimeter dicke Scheibe mit bis zu 25 Zentimeter Durchmesser und bewahrten sie häufig auf. Die Ägypter erkoren diesen Kuchen zum Sitz der Seele, nachdem sie bemerkten, daß ihn viele Tiere samt Nabelschnur kurzerhand verschlingen. Pharaonen ließen Flaggen mit MutterkuchenEmblemen anfertigen, die stets zu feierlichen Anlässen aufgezogen wurden. Aristoteles war im 4. Jahrhundert v. Chr. der erste, der den Mutterkuchen detailliert beschrieb. Die Plazenta, vom lateinischen placenta für Kuchen, ist das Verbindungsorgan zwischen Mutter und Embryo, später zwischen Mutter und Fetus, wie die Leibesfrucht ab dem vierten Schwangerschaftsmonat genannt wird. Dort, wo sich das befruchtete Ei an der Gebärmutterwand einnistet, bildet sich der Kuchen aus Teilen der Gebärmutterschleimhaut und einem embryonalen Anteil, dem Oberflächenhäutchen des Embryos. Innere Befruchtung und Fetalentwicklung in der Gebärmutter (Uterus) sind genetisch determiniert und im Laufe der Evolution durch natürliche Selektion gefördert worden: Beides dient dem Schutz des Embryos. Überlebt bei außerhalb des Körpers stattfindender Befruchtung im allgemeinen nur ein geringer Teil der reichlich vorhandenen Zygoten, so produziert ein Individuum bei innerer Befruchtung im Laufe seines Lebens nur wenige Zygoten, die aber entsprechend gut behütet sind. Explosionsartig entwickelten sich die diversen Arten und Ordnungen der Plazentatiere vor 70 bis 40 Millionen Jahren; seitdem hat die Evolution so unterschiedliche plazentale Säugetiere wie Elefanten, Hasen, Vampirfledermäuse, Wale, Hirsche, Schweine, Seelöwen, Nashörner, Hunde, Katzen, Ratten, Biber, Affen, Menschenaffen und natürlich uns Menschen hervorgebracht. 

Die Plazenta sorgt dafür, daß der Fetus atmen kann und richtig ernährt wird, sie dient als Ausscheidungsorgan sowie als Filter, der das Baby gegen Krankheitskeime und Schadstoffe abschirmen soll. Die Bildung einer Plazentaschranke erlaubt den Austausch von Nahrungs- und Stoffwechselprodukten zwischen mütterlichem und fetalem Blut, wobei die beiden Kreisläufe der embryonalen und mütterlichen Blutgefäße voneinander getrennt sind. Das Blut des Embryos wird durch die Arterien der Nabelschnur in die Plazenta gepumpt und fließt von dort über die Nabelvene zurück. Dabei dringen Kapillaren in den mütterlichen Anteil der Plazenta ein, so daß das Ungeborene aus dem Blut der Mutter Sauerstoff, Nährstoffe und Flüssigkeit beziehen kann. Gleichzeitig werden Abfallprodukte wie Stoffwechselschlacken und Kohlendioxid zurückgeleitet. Außerdem produziert die Plazenta Hormone und Östrogene sowie Immunstoffe zur Infektionsabwehr. 

In Ratgebern für die moderne Familie wird der Mutterkuchen gerne als ein Organ beschrieben, das den Fetus über die Nabelschnur mit der Mutter verbindet, damit der künftige Kleine entsprechend gut genährt das Licht der Welt erblickt. Und auch so mancher Zellbiologe publiziert entsprechende wissenschaftliche Artikel, in denen die Beziehung zwischen Mutter und Fetus als besonders kuscheliges Ereignis dargestellt wird. Der Mutterkuchen scheint, wie der Name suggeriert, in erster Linie ein mütterliches Organ zu sein. Wenn die Plazenta das entscheidende Verbindungsorgan zwischen Mutter und Embryo ist, dann sollte sie genetisch so programmiert sein, daß die Schwangerschaft reibungslos und harmonisch verläuft. Was gut für die Mutter ist, sollte auch gut für das Kleine sein und umgekehrt.

»Eine Schwangerschaft sollte eigentlich der Inbegriff gemeinsamer Zielsetzung sein, eine Zuflucht vor jeder Form von Konflikt, die vollkommene Zweckgemeinschaft von Mutter und Fetus. Und die Beziehung zwischen beiden ist so eng verflochten und so auf Gegenseitigkeit beruhend, wie eine Beziehung nur sein kann«, charakterisieren Randolph M. Nesse und George C. Williams in Warum wir krank werden – Die Antworten der Evolutionsmedizin (1997; Why We Get Sick. The New Science of Darwinian Medicine, 1995) die trügerische Situation, denn eigentlich sollte zumindest jedem Immunologen eine Schwangerschaft Kopfschmerzen bereiten: Wie kann das Immunsystem der Mutter neun Monate lang die Anwesenheit eines halbfremden Organismus akzeptieren? Da die Hälfte des Nachwuchsgenoms vom Vater stammt, müßte das mütterliche Immunsystem zumindest Teile des Embryos so attakkieren, wie es körperfremdes Gewebe bei einer Hauttransplantation abstößt. Tatsächlich aber enthält der mit dem Muttergewebe am engsten verbundene Teil des Fetus nur wenige Antigene, die eine Abstoßreaktion hervorrufen könnten. Allerdings führen Unterschiede zwischen Vater und Mutter in den Rhesus-Blutgruppen zu Komplikationen; nicht unbedingt während der ersten Schwangerschaft, aber bei der zweiten, wenn die Mutter genügend Antikörper gegen das fremde Blutgruppensystem gebildet hat: Dann dringen die mütterlichen Abwehrkörper durch die Plazenta hindurch in die Blutbahn des Embryos und attackieren dessen rote Blutzellen. Was folgt, ist eine Blutarmut des Ungeborenen, die bis zum Herzstillstand führen kann; überlebt der Embryo, kommt es zur sogenannten hämolytischen Krankheit: Der starke Abbau der roten Blutkörperchen des Neugeborenen führt zur Freisetzung von Hämoglobin, das wiederum in den Gallenfarbstoff Bilirubin umgewandelt wird, der die Gehirnzellen schädigt. 

Eine Schwangerschaft ist also prinzipiell eine brisante Affäre, und dies wurde durch die Befunde Azim Suranis und Davor Saltors, wonach bei Mäusen ausgerechnet die väterlichen Gene die Ausbildung der Plazenta aktivieren, nur bestätigt. In dieses Muster paßte auch die Identifikation der ersten drei Imprinting-Gene Igf-2, Igf-2-Rezeptor und H19. Denn während das Igf-2-Gen in der Maus ein väterlich aktiviertes Gen ist, existiert umgekehrt im Fetus mit dem Igf-2-Rezeptor ein nur mütterlich angeschaltetes Imprinting-Gen, das ausschließlich dafür zuständig ist, den Abbau des insulinähnlichen Wachstumsfaktors zu kontrollieren beziehungsweise zu beschleunigen. Mit anderen Worten: Während das väterliche Genom die Aktivitäten dieses Wachstumsfaktors immer höher treiben will, versuchen die mütterlichen Gene im Fetus, derartige Gene zu konterkarieren. Auf den ersten Blick erscheint dies absurd. Aus evolutionärer Perspektive, so schloß der Biologe David Haig von der Harvard University, ergebe es allerdings Sinn: Da Mutter und künftiges Junge nur die Hälfte ihrer Gene durch Abstammung gemeinsam haben, könne dies durchaus zu solch extrem unterschiedlichen Reproduktionsstrategien führen. Schließlich haben Gene, die Nahrungsmittelressourcen beeinflussen, je nach Herkunft unterschiedliche Interessen: Väterliche Gene wollen mehr Ressourcen von der Mutter, mütterliche Gene entnehmen weniger Ressourcen. Letztlich können im Mutterleib drei unterschiedliche Arten von Genen in Konflikt miteinander geraten, nämlich die Gene der Mutter sowie die mütterlichen und die väterlichen Gene des Fetus. Da die Mutter noch weiteren Nachwuchs bekommen möchte, will sie ihre Ressourcen gleichmäßig verteilen; keiner ihrer Embryonen, die sie im Laufe ihres Lebens versorgen muß, soll zuviel oder zuwenig erhalten. Die väterlichen Gene des Embryos dagegen wollen Wachstumshormone, die mit voller Kraft arbeiten; sie wollen eine große Plazenta mit einem großen Nachwuchs. Ihnen ist es völlig gleichgültig, ob die Mutter noch einmal Junge haben wird oder nicht – zumal sie diese ja auch von einem anderen Männchen bekommen könnte. 

Aus der Sicht der modernen Evolutionsgenetik ist die Plazenta daher kein mütterliches Organ zum Wohl des künftigen Kleinen, sondern ein Organ des Fetus, das quasi parasitär und ohne Rücksicht auf Verluste die Blut- und Nahrungsversorgung der Mutter anzapft. Vergleichbar ist all dies mit einem verbissenen Tauziehen; zwei Mannschaften zerren mit vereinten Kräften an den beiden Enden des Seils und halten dadurch eine immense Spannung aufrecht; bricht ein Mitspieler ein, liegen plötzlich alle am Boden; das System ist kollabiert, und ähnliches, so vermutet David Haig, passiere nicht nur bei Mäusedamen, sondern sogar im menschlichen Mutterleib: Zwar seien die diversen Folgen dieses Wettrüstens bis auf einige extreme Situationen eher gering, zweifelsohne aber existiere ein intensiver Konflikt zwischen mütterlichen und fetalen Genen, der für eine Schwangerschaft geradezu charakteristisch sei. Dabei spiele das Versenden von hormonellen Signalen eine entscheidende Rolle: Die Macht, mit der der Fetus Nahrungsmittel aus der Mutter herauspressen will, signalisiert der Mutter etwas über die Tauglichkeit des Fetus; umgekehrt vermittelt die mütterliche Widerstandskraft dem Fetus die Kostspieligkeit seiner Aktionen. Üblicherweise, so gibt Haig als Beleg für seine Theorie zu bedenken, werden Hormone in kleinen Mengen produziert, die aber, solange kein Konflikt zwischen Sender und Empfänger herrscht, innerhalb eines Körpers eine große Wirkung erzielen. Umgekehrt dagegen die Situation im Mutterleib, wo der Nachwuchs genetisch programmiert ist, eine erhöhte Dosis von Hormonen herzustellen, während das mütterliche System aufrüstet, um diesen Manipulationen zu widerstehen. So entläßt der Fetus das Hormon human placental lactogen (HPL), um mehr Glukose für sich zu erheischen. Üblicherweise schüttet ein menschlicher Körper das in der Bauchspeicheldrüse produzierte Hormon Insulin aus, wenn der Zuckergehalt im Blut einen bestimmten Punkt erreicht hat, dadurch sinkt die Glucosekonzentration ab. HPL nun bindet das Insulin der Mutter, dadurch steigt deren Blutzuckerspiegel an. Die Mutter wiederum beantwortet die Nachfrage des Fetus mit einem höheren Insulinausstoß, der aber den Fetus nur raffgieriger werden läßt: Dieser sendet kurzerhand noch mehr HPL aus. Den Kampf im Mutterleib um die zu verteilenden Ressourcen, der nach jeder Mahlzeit, die sich eine schwangere Frau gönnt, beginnt, vergleicht Haig mit einem lautstarken Gezänk: »Wenn eine Nachricht flüsternd übermittelt werden kann, warum sollte man dann schreien? Erhobene Stimmen sind häufig Ausdruck eines Konfliktes.« Insgesamt sondert der Fetus jeden Tag ein bis drei Gramm human placental lactogen in die Blutbahnen der Mutter ab, ein recht hohe Menge, die seltsamerweise für den normalen Ablauf einer Schwangerschaft überhaupt nicht benötigt wird: Das Gewicht eines Neugeborenen ist auch dann normal, wenn der Fetus überhaupt kein HPL produziert hat. Andererseits führt ein hoher HPL-Ausstoß bei Frauen mit einer gestreßten Insulinproduktion zur sogenannten Schwangerschaftsdiabetes; diese macht sich zwar nicht direkt bemerkbar, kann aber langfristig die Regulationsmechanismen des Zuckerhaushaltes stören: Frauen, die während einer Schwangerschaft zuckerkrank waren, unterliegen einem erhöhten Risiko, im Alter dauerhaft an Diabetes zu erkranken. 

Die »Krieg im Mutterleib«-Theorie klingt leicht überspannt – zumindest für Nicht-Biologen oder Wissenschaftler, die an evolutionären Erklärungen kein Interesse haben oder die sich nicht vorstellen können, daß unterschiedliche genetische Kräfte innerhalb eines Individuums agieren. Aber mit ihrer Hilfe läßt sich nicht nur die Schwangerschaftsdiabetes deuten, sondern auch eine der gefährlichsten Komplikation während einer menschlichen Schwangerschaft überhaupt: Die sogenannte Präeklampsie ist die häufigste Ursache für eine Gesundheitsschädigung der werdenden Mutter, sie trifft drei bis sechs Prozent aller Schwangeren und kann unter Umständen zum Tod von Mutter und Fetus führen. Dabei setzt zwischen dem sechsten und siebten Schwangerschaftsmonat ein gefährlicher Bluthochdruck ein, der die Nieren der Mutter schädigt. Dies führt zu Eiweißausscheidungen im Urin. Grund dafür ist der Versuch des Fetus, ständig mehr Nahrung zu erhalten; der Fetus erhöht die Durchblutung der Plazenta, indem er Hormone ausschüttet, die die mütterlichen Blutgefäße zusammenziehen, was zu einem erhöhten Blutdruck führt. Die mütterliche Seite aktiviert dagegen im Verlauf der Krankheit ein Enzym, das die Blutgefäße der Plazenta schädigt und so die Versorgung des ungeborenen Kindes mit Sauerstoff und Nährstoffen beeinträchtigt. 

»Dies ist in der Tat ein markantes Beispiel für eine mögliche mütterliche Antwort auf ein Signal, das vom Fetus ausgesendet wird, damit mehr Nahrung durch die Plazenta strömt. Und die Mutter reagiert darauf, indem sie Substanzen produziert, damit weniger Nahrung durch die Plazenta fließt. Im Fall der Präeklampsie führt dies zu Konsequenzen, die sowohl für die Mutter als auch für den Fetus nicht sehr erfreulich sind«, kommentiert Reik, der in den letzten Jahren zusammen mit seiner Forschungsgruppe ausgetüftelte Laborversuche durchgeführt hat, um die molekularen Mechanismen des Tauziehens im Mutterleib und der daran beteiligten ImprintingGene zu erforschen. So wurden Mausembryonen das Igf-2Gen ausgeknockt, prompt waren jene Vorgänge gestört, die normalerweise wertvolle Nahrungsstoffe von der Mutter auf den Fetus übertragen. Das Ergebnis: Die Jungen waren 30 Prozent kleiner als normal. 

»Igf-2 hat in der Tat einen dramatischen Effekt«, interpretiert Reik die Ergebnisse. »Es ist das wichtigste fetale Wachstumsgen, das wir kennen. Wenn wir es abschalten, werden die Babys kleiner, und wenn es doppelt vorhanden ist, dann sind die Babys eben viel zu groß.« 

Erben beispielsweise Kinder zufällig zwei Genkopien vom Vater, führt dies beim Menschen zum sogenannten Beckwith-Wiedemann-Syndrom: Die Babys haben ein zu großes Herz und eine riesige Leber, sie wiegen bei der Geburt plötzlich 12 Kilogramm. Außerdem unterliegen sie einem erhöhten Tumorrisiko, besonders für Nierentumore. Dieses Krebsrisiko sei, so Reik, auf die Funktion von Igf-2 als Zellteilungsantreiber zurückzuführen. 

»Erstaunlicherweise ist beim Menschen das Igf-2-RezeptorGen nicht geprägt.« 

»Ja, so ist es. Bei der Maus ist dieses Gen geprägt, beim Menschen aber nicht.« 

»Aber das würde doch bedeuten, daß sich der Krieg im Mutterleib beim Menschen wesentlich undramatischer als in der Maus abspielt? Was wiederum die grundsätzliche Frage aufwirft, inwieweit Erkenntnisse aus Laborexperimenten mit Mäusen auf den Menschen übertragbar sind?« 

»Ich denke, der Krieg im Mutterleib findet nicht nur in der Maus, sondern auch beim Menschen statt. Nur die Intensität dieses Krieges ist unterschiedlich. Und diese Intensität hängt im wesentlichen von der Reproduktionsweise des Individuums ab: Mäuse haben ja gleichzeitig viele Junge im Uterus, während Menschenmütter normalerweise nur eines haben. Außerdem ist wesentlich, wie häufig Mütter Nachkommen von verschiedenen Vätern haben.« 

»Beim Menschen oder bei der Maus?« 

»Bei beiden. Polyandrie heißt der technische Ausdruck für ein Paarungssystem, bei dem sich ein Weibchen mit mehreren Männchen paart. Und je intensiver die Polyandrie ist, desto intensiver sollte der Konflikt sein und desto stärker der Selektionsdruck für Imprinting. Je mehr unterschiedliche männliche Genome sich also bewerben...« 

»...um aus der mütterlichen Seite etwas herauszuholen?« 

»Ja, sie wollen da ja immer mehr rausholen. David Haig hat all dies in ein mathematisches Modell gefaßt, das auf mich sehr überzeugend wirkt. Dies beantwortet allerdings nicht die konkrete Frage, warum der Igf-2-Rezeptor beim Menschen keine Prägung hat, aber generell läßt sich plausibel darlegen, warum die Einzelheiten dieses Krieges im Mutterleib von den Lebensumständen, vor allem vom jeweiligen Reproduktionsmodus der Spezies oder des Organismus abhängen.«

»Was aber die Frage nicht beantwortet, inwieweit all diese Verallgemeinerungen zwischen Mäusen und Menschen, sei es jetzt im Verhalten oder in spezifischen genetischen Eigenschaften, immer so berechtigt sind?« 

»Ich bin auch Mediziner, und wenn man etwas bei Mäusen über bestimmte menschliche Krankheiten herausfinden könnte, wäre dies positiv. Wenn ich im Labor auf etwas Neues stoße, dann frage ich mich, ob das, was bei der Maus beobachtet wird, auch auf mich selber zutrifft. Dies ist doch eine natürliche Reaktion. Daß dabei manchmal etwas verallgemeinert wird, was eigentlich nicht so verallgemeinerbar ist, finde ich nicht so ungewöhnlich. Daher müssen immer wieder die entsprechenden Experimente durchgeführt werden. Wenn man beispielsweise herausfindet, daß der Igf-2-Rezeptor beim Menschen nicht geprägt ist, dann muß man sich überlegen, warum dies so ist. Man kann dann eben nicht am Beispiel der Maus erklären, warum beim Menschen das Imprinting-Muster anders ist.« 

Ungefähr 60 Imprinting-Gene sind inzwischen bei Säugern ausfindig gemacht worden, beim Menschen, so vermutet Reik, gebe es wahrscheinlich zwischen 100 und 200 solcher Gene. Eine geringe Anzahl, verglichen mit den wahrscheinlich 30 000 bis 40 000 Genen, die ein Mensch so durchschnittlich haben soll, aber die Imprinting-Gene haben nachhaltige Auswirkungen: Sie sind tatsächlich der ultimative Grund, warum es – im Gegensatz zu vielen anderen Arten – bei Säugern nirgends zur Parthenogenese kommt. Dank genomischer Prägung müssen all die Männer, die ständig und gewissenlos ihre Spermien verschleudern und später die Mutter im Stich lassen oder wenig oder nichts zum Aufzug der Kinder beitragen, keine Angst davor haben, irgendeine Frau könnte einmal auf ihre Dienste verzichten und ein unbefruchtetes Ei austragen. Denn ohne den Samen bei der Befruchtung gibt es keine väterlichen Imprinting-Gene, der Embryo würde schnell absterben. 

Generell müssen die Imprints sowohl in der Keimbahn der Frau als auch in der des Mannes richtig gesetzt werden, Fehler spielen bei einigen seltenen Krankheiten eine besonders fatale Rolle. Beim Angelman-Syndrom – es kommt in europäischen Populationen in einer Häufigkeit von 1 : 20 000 vor – leiden die Patienten an mentalen Defekten, fehlender Sprachentwicklung und epileptischen Anfällen; außerdem lachen sie gerne unvermittelt und grundlos, sie verhalten sich überhaupt ausgeprägt freundlich. Dies sind Aktivitäten, die üblicherweise von der Großhirnrinde gesteuert und kontrolliert werden. Dagegen weisen Menschen mit dem Prader-Willi-Syndrom unterentwickelte Geschlechtsmerkmale, Muskelschwäche, kleine Hände und Füße auf, sie leiden an Störungen im zentralen Nervensystem, die vom limbischen System, dem für Emotionen und Affekte verantwortlichen Gefühlszentrum des Großhirns, gesteuert werden und die im Verlauf der Erkrankung in der Regel zu unstillbarer Eßlust verbunden mit Fettsucht führen. 

Beide Syndrome wurden in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts nach jenen Ärzten benannt, die diese erstmals beschrieben. Die beiden Krankheiten werden durch Mutationen verursacht, häufig handelt es sich dabei um den Verlust eines Abschnitts auf dem Chromosom 15. Sind nun die Kopien der väterlichen Gene verlorengegangen, führt dies zum Prader-Willi-Syndrom; beim Verlust der mütterlichen Gene leidet das Kind unter dem Angelmann-Syndrom. Oder aber es kommt zu einem sogenannten Imprinting-Fehler, wenn die Prägungsmuster in der Keimbahn falsch gesetzt werden: Dann führt eine mütterliche Prägung des väterlichen Chromosoms zum Prader-Willi-Syndrom, umgekehrt verursacht eine väterliche Prägung des mütterlichen Chromosoms das Angelman-Syndrom. Möglicherweise, so vermutet Reik, werden viele derartige psychische Störungen durch fehlerhafte Imprinting-Prozesse verursacht.

In der Tat sind inzwischen die Genetiker mit ihren Untersuchungen über dieses seltsame Phänomen vom Mutterleib aus bis tief ins Gehirn vorgedrungen. So gelang es in einem Experiment, embryonale Zellen aus rein mütterlichen Chromosomenkopien – die ja eigentlich früh in ihrer Entwicklung absterben müßten – mit Zellen eines normalen Embryos zu verbinden. Die Tiere entwickelten sich bis zur Geburt weiter; sie werden, da sie künstlich aus zwei Individuen mit unterschiedlicher genetischer Konstitution zusammengesetzt wurden, als Chimären bezeichnet. Die Zellen dieser Tiere enthalten sowohl nur mütterliche Chromosomen als auch normale Zellen, Chimären sind quasi ein Gemisch aus verschiedenen Geweben. Aus dem Körper der Mäuse mit den überwiegend mütterlichen Genen ragte ein übergroßer Kopf heraus, umgekehrt hatten Maus-Chimären mit vor allem väterlichen Genen einen großen Körper und einen kleinen Kopf, so als kämen sie geradewegs aus einem Bodybuilding-Studio. Mit Hilfe einer Art Sender konnte sogar die Verteilung der Zellen verfolgt werden: Die mütterlichen Chromosomen waren häufig in jenen Hirnzellen anzutreffen, die Wahrnehmung und bewußtes Denken steuern, während die Zellen mit den väterlichen Chromosomen im Hypothalamus geortet wurden, wo Verhaltensstrukturen verarbeitet werden, die wie Sex, Essen und Aggression für ein erfolgreiches Überleben wichtig sind. Diese Befunde haben zu vielfältigen Spekulationen Anlaß gegeben. So schreibt Matt Ridley in Alphabet des Lebens (2000; Genome – The Autobiography of a Species in 23 Chapters, 1999): »Wenn wir annehmen, daß die Plazenta ein egoistisches Organ ist, dessen Herstellung die väterlichen Gene den mütterlichen nicht zutrauen, dann ist die Hirnrinde ein Organ, dessen Herstellung die mütterlichen Gene den väterlichen nicht zutrauen. Wenn wir Menschen den Mäusen gleichen, laufen wir mit dem Denken unserer Mutter und den Launen unseres Vaters herum (jedenfalls soweit Denken und Launen überhaupt erblich sind).« 

»Dieses Experiment ist äußerst komplex gewesen, es läßt sich daher nicht so einfach interpretieren«, kommentiert Reik die Sachlage etwas nüchterner. »Aber es gibt jetzt einige Befunde über das sogenannte Turner-Syndrom, die in dieselbe Richtung weisen. Bei diesem Syndrom fehlt den Individuen, die weiblich sind, ein X-Chromosom. Und die Mädchen mit diesem X0-Syndrom haben unterschiedliche kognitive Fähigkeiten, je nachdem, ob sie das einzelne X-Chromosom vom Vater oder von der Mutter haben. Hatten sie es vom Vater, wurden bestimmte Defekte ausfindig gemacht, die häufig mit Schwierigkeiten im sogenannten zwischenmenschlichen Umgang zu tun hatten. Und dies läßt sich wiederum mit normalen XX und XY-Trägern vergleichen: Wir Männer sind XY und haben ja unser X-Chromosom von der Mutter geerbt. Und zweifelsohne haben Männer und Frauen unterschiedliche Fähigkeiten, was die sozialen Interaktionen betrifft. Wobei Männer in dieser Hinsicht eher Defekte haben. Ich denke, das wird inzwischen generell akzeptiert. Und dies könnte tatsächlich mit Imprinting-Prozessen zusammenhängen. Im Prinzip wird sich, so glaube ich, bald herausstellen, wie wichtig Imprinting-Prozesse für Verhalten und Wahrnehmung sind. Zur Zeit sehen wir wirklich nur die Spitze des Eisberges.« 

Auf ungefähr alle 2500 Lebendgeburten kommt ein Mädchen, das nur ein einziges X-Chromosom (X0) besitzt; theoretisch sollte sich das Fehlen dieses Chromosoms nicht sonderlich bemerkbar machen, schließlich gibt es als Ersatz noch ein zweites, aber diese Frauen haben unterentwickelte Eierstöcke, sind unfruchtbar und kleinwüchsig, und obwohl sie über gute sprachliche Fertigkeiten verfügen, bereitet ihnen das Formulieren abstrakter Gedanken ebenso Schwierigkeiten wie die Durchführung von Aktivitäten, die eine gewisse Planmäßigkeit verlangen. Im Jahr 1997 publizierte David Skuse die Ergebnisse einer Untersuchung, die er zusammen mit seinen Mitarbeitern am Londoner Institute of Child Health an 80 X0Mädchen und -Frauen im Alter zwischen sechs und 25 Jahren durchführte. Erstaunlicherweise stellte Skuse Unterschiede im Sozialverhalten der Frauen fest, und zwar je nach Abstammung des Chromosoms. Hatten die Frauen ihr X-Chromosom vom Vater (Xp), waren sie bei zwischenmenschlichen Spannungen rationalen Argumenten wenig zugänglich, sie hatten ein beherrschendes Auftreten und wurden anderen gegenüber schnell beleidigend, ohne es selbst wahrzunehmen; kurzum, ihnen fehlte häufig ein Bewußtsein für die Gefühle ihrer Mitmenschen. Dagegen traten die Mädchen, die ihr X-Chromosom von der Mutter (Xm) geerbt hatten, im zwischenmenschlichen Bereich weniger beherrschend und aggressiv auf. Skuse folgerte hieraus, daß es Gene auf dem X-Chromosom geben müsse, deren väterliche oder mütterliche Ausführungen unterschiedlich geprägt sind, was zu unterschiedlichen männlichen und weiblichen kognitiven Fähigkeiten und Verhalten führt. 


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