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Das Loch im Walfisch  - Die Philosophie der Biologie

Wolfgang Wickler, Spektrum der Wissenschaft, Juni 2004  

Aus Sicht der Philosophie ist es die Biologie, die den naturwissenschaftlichen Stein des Anstoßes bildet, nicht die Physik. Mit den klaren physikalischen Gesetzen kann sich ein Philosoph abfinden, sogar anfreunden. Aber selbst Physiker wie Richard Feynman, und von ihnen geistig genährt auch Teile des Wissenschaft konsumierenden Publikums, sehen eine Kluft zwischen den so genannten exakten Naturwissenschaften und der Biologie. 

Nach Feynman - und vielen anderen Physikern - ist Ziel jeder Naturwissenschaft, vorauszusagen, was in einem nie ausgeführten Experiment geschehen wird; er behauptet sogar, dass alles, was Lebewesen tun, daraus verständlich zu machen wäre, dass sie aus Atomen zusammengesetzt sind, die sich gemäß den physikalischen Gesetzen verhalten. Aber ein System, zumal ein lebendes, besteht nicht nur aus seinen Teilen, sondern wesentlich aus dem Zusammenspiel dieser Teile. Auf höheren Integrationsebenen entstehen "emergente" Eigenschaften, die sich aus der Kenntnis der Bestandteile niederer Ebenen nicht ableiten lassen. Für Ernst Mayr, den wohl größten lebenden Evolutionsbiologen und wichtigsten Denkpartner im vorliegenden Buch, ist das ein grundlegendes Merkmal der organischen Welt. 

Der Journalist Christian Göldenboog ("Süddeutsche Zeitung" und "Philosophie heute") unternimmt es, die Rolle der Biologie für die Wissenschaftsphilosophie zu klären. Mit Wissenschaft ist hier (selbstverständlich?) Naturwissenschaft gemeint. 

Weltformelsüchtige Wissenschaftler möchten die ganze Biologie - mit ihren zu wenig konkreten Gesetzmäßigkeiten, den ständigen Neuerungen durch Evolution und Lernvermögen sowie den zuweilen widersinnig erscheinenden Marotten der Partnerwahl unter sexueller Selektion - nicht nur mit spitzen Fingern, sondern am liebsten gar nicht anfassen. Ist die Biologie, wenn es in ihr zwar genetische Programme, aber keine universalen Gesetze gibt, überhaupt eine richtige Wissenschaft? Nun, sie ist zumindest unabhängig von den physikalischen Wissenschaften. Das ermisst Ernst Mayr daran, dass noch keine revolutionäre physikalische Theorie irgendeine Änderung einer biologischen Theorie zur Folge hatte. Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn, außer im Licht der Evolution, schrieb der Genetiker Theodosius Dobzhansky; ersetzt man "Evolution" durch "Gravitationsgesetz" oder "Unbestimmtheitsrelation", so wird der Satz unsinnig. 

Göldenboog nimmt vor allem das spezielle Problem der Evolution aufs Korn, ausführlich am Beispiel der Entstehung der Arten und der Molekularbiologie. Und er hebt dann die Biologie als neue Leitwissenschaft hervor, und zwar in Form von teils wörtlichen, teils virtuellen Gesprächen mit einem Physiker, einem Populationsgenetiker, einem Evolutionsgenetiker, einem Soziobiologen, und abschließend mit Ernst Mayr. Ganz gut heraus kommen dabei die unterschiedlichen Denk- und Argumentationsweisen, aus denen ein Gesamtbild der Biologie entstehen muss. Bevor es aber dazu kommt, kann der Leser durch verschiedene fachspezifische Fenster auf Teile dieses Gesamtbilds blicken, und er muss dabei zuweilen kräftig mitdenken. 

Ein Vorteil für ihn ist, dass der Autor des Buchs sich in diese vielschichtige -Materie selbst einarbeiten musste und so die Lage des Lesers noch mühelos nachvollziehen kann. Wo allerdings Herr Göldenboog stockt, bleibt auch ein eifrig mitdenkender Leser ratlos. Es ist richtig, dass ein Helfer seinen eigenen Genen nützen kann, wenn diese auch im Hilfsbedürftigen stecken; die Wahrscheinlichkeit dafür wächst mit dem Verwandtschaftsgrad. Aber bei der Frage, auf wessen Konto dieser Nutzen zu buchen ist (des Helfers? des Nutznießers? der gemeinsamen Gene?), geht es dann durcheinander. 

Bei Bienen sind Schwestern näher miteinander verwandt als Mutter und Tochter; so gelangen mehr Kopien der eigenen Gene in die nächste Generation, wenn Arbeiterinnen unfruchtbar sind und Schwestern aufziehen. Aber das wirkt sich evolutionär nur aus, wenn diese Schwestern nicht unfruchtbar bleiben, sondern Königinnen werden. Und Söhne, die ja zu hundert Prozent mit Mutter und Schwestern verwandt sind, sollten erst recht pflegen, tun es aber nicht. 

Teleologisches Argumentieren, das in den Naturwissenschaften keinen Platz hat, wird im Text zwar mehrmals verurteilt, schleicht sich aber dann doch durch einen Sprachstil ein, der das Ergebnis als Zweck beschreibt: "Will eine Art überleben, so benötigt sie ..." statt "Wenn eine Art überlebt hat, dann hatte sie ..."; oder "Wenn die Population zahlenmäßig gleich bleiben soll ..."; aber soll sie denn? 

Nicht nur Biologiestudenten werden in dem Buch viel Wissenswertes und Anregendes entdecken und auf moderne Facetten einer faszinierenden Biologie stoßen, und zwar in einem weiten Fächer von Denkrichtungen, von der Doppelhelix bis zu außergalaktischem Leben. Eine Philosophie der Biologie, die der Untertitel des Buches andeutet, werden sie sich selber daraus machen müssen. 

Zu diesem Beitrag erschien in der Oktober-Ausgabe von Spektrum der Wissenschaft ein Leserbrief von PD Dr. Jürgen Schlitter, Bochum:

In seiner Buchbesprechung referiert Professor Wickler die Meinung, die Biologie sei »zumindest unabhängig von den physikalischen Wissenschaften«. Man könnte das als Definition sehen: von dem großen Projekt, Strukturen und Prozesse des Lebens zu verstehen, ist Biologie nur der Teil, der keine Physik braucht. 

Es gibt allerdings die große Zahl von Physiologen, Biochemikern und Biophysikern sowie Physikochemikern, die mit physikalischem Gerät und ebensolcher Theorie die Klärung biologischer Fragestellungen betreiben. Noch mehr, sie sind erst zufrieden, wenn es ihnen gelingt, ein Phänomen physikalisch zu erklären und zu verstehen. 

Bedeutet Verstehen nicht das Aha-Erlebnis, dass ein einzelner Befund sich plötzlich wie selbstverständlich in das schon als richtig erfahrene Weltbild fügt? In der Biologie vermittelt die chemische Einsicht oft dieses Erlebnis, und dem physikalisch Gebildeten wird sogar das zu Grunde liegende Netz physikalischer Gesetze deutlich, welches die Kohärenz unserer Naturwissenschaften konstituiert. 


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